Heute nicht, mein werter Herr.

Ich arbeite an vielen Projekten. Für Verlage übernehme ich Korrekturen, regelmäßig verfasse ich Geburtstags- oder Hochzeitsreden und außerdem übersetze ich gerade ein Kinderbuch ins Deutsche. Das größte Projekt aber stellt mein Kopf dar. Dabei spreche ich nicht von einer Kur mit dubiosen Haarwuchsmitteln – das Schicksal des kahlen Mannes trage ich mit Würde –, ich spreche davon, endlich meinen inneren Kritiker auf seine Plätze zu verweisen.
Versteht mich nicht falsch, dieser innere Kritiker hat seine Daseinsberechtigung. Er stellt sicher, dass ich durchweg auf hohem Niveau arbeite, und dafür bin ich ihm überaus dankbar. Das Problem ist, dass er sich manchmal zu wichtig nimmt, dass er der Meinung ist, in meinem Leben die Hauptrolle zu spielen.

Mit seinen immensen Ansprüchen komme ich klar. In der einen oder anderen Situation würde ich ihm gern den Vogel zeigen, aber insgesamt gestatte ich ihm, Kritik auf höchstem Niveau zu üben. Schlimm wird es, wenn diese in Destruktivität ausartet und keinerlei Lösungsansätze mehr bietet. Wenn mein Geist rotiert, weil einem Text der rote Faden fehlt, weil irgendein Satz nicht exakt das ausdrückt, was er sollte, oder weil ich daran scheitere, jenes spezielle Wort zu finden, das diese eine Passage abrunden würde. Manchmal läge die Lösung in der Akzeptanz, manchmal darin, etwas Abstand zu gewinnen und eine andere Herangehensweise zu wählen. Im äußersten Notfall läge sie im Abbruch des Projektes – wobei ich damit vorsichtig sein muss, sonst schränkt der Kritiker meine Möglichkeiten nach und nach ein und bringt es schließlich zustande, dass ich das Schreiben komplett sein lasse. Bei der Musik ist ihm das in gewisser Weise gelungen, auch wenn die letzte Schlacht dort noch nicht geschlagen ist.

Während ich diese Worte verfasse, hat er sich angeschlichen. Diesmal jedoch war ich wachsam. Seine neuste Spezialität sind vermeintliche Widersprüche zwischen den Zeilen. Er erwartet absolute und eindeutige Logik. Dass es mitunter an Wahnsinn grenzt, von Texten über Empfindungen und Gedanken pragmatisch erklärbare Zusammenhänge zu fordern und eine Wortwahl zu verlangen, die jedes Missverständnis ausschließt – auch in Hinsicht auf bereits veröffentlichte Beiträge – kommt ihm gar nicht in den Sinn. Mir aber. Heute nicht, mein werter Herr.

Damit wäre der Grundstein (oder bereits ein zweiter Stein – Anm. d. Kritikers) für mein größtes Projekt gelegt. An meinen Fähigkeiten zweifle ich keineswegs; es macht mich selten nervös, wie meine Arbeit ankommt. Das ist ein hohes Gut, das nicht jedem vergönnt ist. Zufrieden bin ich dennoch nur in Ausnahmefällen. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, muss ich lernen, Dinge abzuschließen. Verschwinden wird mein innerer Kritiker nicht – und das soll er auch gar nicht. Allerdings senkt er vielleicht eines Tages seine Stimme, wenn ich ihm ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zuhöre. Anfangs wäre er mit Sicherheit entrüstet, doch letztlich könnte das genau der Kompromiss sein, den wir beide benötigen.

Heute nicht, mein werter Herr.
                                            

Kevin Jell

Ich wandle zwischen Nostalgie und Zuversicht – das beschreibt mich ganz gut, glaube ich.

2 Kommentare zu „Heute nicht, mein werter Herr.

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