Immerfort geradeaus

(Fortsetzung zu „Es hätte schon lange dämmern müssen“)

Es hat keinen Zweck weiterzugehen. Dieselben Worte, immer und immer wieder. Es hat keinen Zweck.

Manchmal fiel das fahle Mondlicht durch die Wolkendecke und veranlasste die Schatten am Wegesrand dazu, ihm hämische Blicke zuzuwerfen. Er hasste die Schatten. Er hatte sie immer schon gehasst. Er hatte sie gehasst, als sie ihm Schutz boten, und er hasste sie jetzt, da sie sich gegen ihn gewendet hatten – und er wusste, dass das nicht wahr war.
Er sank zu Boden. Von überallher drang Gelächter auf ihn ein, brach das Schweigen der Nacht und hallte in ihm wider.

Wie lange er dort kauerte, wusste er nicht. Es war nicht länger wichtig. Niemand würde ihn finden; niemand würde ihn überhaupt suchen. Niemand wusste, wo er war, denn er war zweifelsohne vom Weg abgekommen. In dieser abstrakten Finsternis hatte er es geschafft, einen Weg zu verlieren, der immerfort geradeaus führte.

Er dachte an das zurück, was sie ihm gesagt hatten. Niemand hatte behauptet, dass es einfach werden würde, aber er fühlte sich gleichwohl betrogen. Es hatte nämlich auch niemand den Anstand gehabt, ihn davor zu warnen, dass er womöglich scheitern könnte. Wie naiv er doch gewesen war.

Momente, die wie kalter Regen auf ihn herabprasselten. Gelächter und hämische Blicke. Eine bebende Unruhe erfasste ihn und er wusste nicht, wohin mit sich. Zitternd stand er auf, und noch ehe er sich ganz erhoben hatte, begann er zu rennen. Immerfort geradeaus.

“Ist alles in Ordnung?”, hörte sie ihn verunsichert fragen. Sie regte sich nicht mehr. Aus einer innigen Umarmung war ein krampfhaftes Klammern geworden. Natürlich klammerte sie, er würde jede Sekunde verschwinden. Sie antwortete nicht. Sie kam sich lächerlich vor, wenn sie Selbstgespräche führte.

Blasse Erinnerungen nahmen Konturen an und die Welt um sie herum verschwamm. Es sangen keine Vögel mehr, denn deren vage Stimmen hatte der Wind davongetragen. Sie öffnete die Tür zur Terrasse und trat in das Zwielicht des alternden Tages.

Keine Träne hatte sie jemals wieder weinen wollen, aber sie bereute nicht eine davon. Dennoch hatte sie Angst. Angst davor, dass es ihr irgendwann besser gehen könnte und sie ihre Tränen schließlich doch bereuen würde. Sie fürchtete, irgendwann zu erkennen, ihr Leben weggeschmissen zu haben, obschon sie sich im Moment nichts sehnlicher wünschte, als dass es versiegte.
Die Wipfel der den Garten säumenden Bäume wiegten sich im Wind. In jenem Wind, der vor langer Zeit die Gesänge der letzten Vögel genommen hatte.

In den vergangen Jahren hatte man viel auf sie eingeredet. Man hatte es gut gemeint, denn man hatte ihr zur Seite stehen wollen. An ihrer Seite war jedoch kein Platz mehr gewesen, dort hatte sich eine unendliche Leere ausgebreitet. Sie schloss die Tür hinter sich und trat in diese Leere. Als ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, gewahrte sie vor sich einen langen, scheinbar endlosen Pfad.

Immerfort geradeaus
                                                            

Kevin Jell

Ich wandle zwischen Nostalgie und Zuversicht – das beschreibt mich ganz gut, glaube ich.

4 Kommentare zu „Immerfort geradeaus

  • 17. Mai 2021 um 18:18
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    Man, warum habe ich deinen Blog erst soooo spät entdeckt…. :-/ Dein Schreibstil gefällt mir ausnehmend gut und ich bin sehr gefesselt, wenn ich ‘dich’, bzw. diese texte lese!
    Chapeau für diese Gabe! 🙂
    Momentan bin ich zeitlich sehr eingespannt, aber ich werde sicherlich mal tiefer runter scrollen, wenn es sich ergibt. Solong Bea 🙂

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    • 17. Mai 2021 um 23:20
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      Soooo lange gibt es mich hier ja noch gar nicht, also mach dir keine zu großen Vorwürfe. 😉

      Nein, im Ernst, vielen, vielen Dank. Ich muss aufpassen, dass ich anhand solcher Worte nicht abhebe, dazu neige ich noch immer, deswegen übe ich mich in Bescheidenheit. Aber es freut mich wirklich sehr.

      Ich warne dich gleich mal vor, dass ich weiter unten ein paar Dinge behandelt habe, die nicht so schön sind. Trotzdem darfst du das natürlich gerne tun, wenn du möchtest. 🙂

      Antworten

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